
Gelsenkirchen. Die AfD versammelt prominente Köpfe ihrer Landes-Partei in Gelsenkirchen. Die FDP schlägt einen Gelsenkirchener als nächsten Parteichef vor.
Dass es kein schöner Abend für die SPD werden würde – das war wohl jedem Sozialdemokraten, der nur ein bisschen politisches Gespür hatte, schon klar, bevor die ersten Prognosen zur Bundestagswahl über die TV-Bildschirme einliefen. Am Ende des Abends stand zumindest fest, dass eine Serie auch weiter Bestand hat: Den Direktkandidaten aus Gelsenkirchen stellt die SPD, wie bei jeder Bundestagswahl seit 1949. Aber: Noch nie stimmten so wenige Menschen in Gelsenkirchen für die Partei von August Bebel, Friedrich Ebert und Willy Brandt.
Die Gelsenkirchener Parteien hatten sich mit ihren Wahlpartys über die ganze Stadt verteilt. SPD und CDU trafen sich (in getrennten Räumen, versteht sich) im Hans-Sachs-Haus, die Grünen hatten das Buersche Traditionskino Schauburg angemietet, die FDP versammelte sich im Domgold, ebenfalls in Buer. Die AfD traf sich in Gelsenkirchen-Feldmark, der genaue Ort sollte – wie bei der Rechtsaußen-Partei typisch – öffentlich geheim bleiben. Dorthin war viel Prominenz der Landespartei gekommen, unter anderem der Chef der NRW-AfD, Martin Vincentz, und der Bundestagsabgeordnete Kay Gottschalk (Listenplatz 1 in NRW). Der Grund: Die AfD hatte gehofft, in Gelsenkirchen eines der ersten Direktmandate in Westdeutschland zu gewinnen.
Als um 18 Uhr die Wahllokale geschlossen waren und die ersten Prognosen über die Fernsehbildschirme einliefen, da war den meisten Sozialdemokraten die Lust am Feiern wohl schon verflogen. 16,0 Prozent, so die erste ARD-Prognose: Das bedeutet das historisch schlechteste Ergebnis der SPD seit Gründung der Bundesrepublik. Markus Töns sprach mit Blick auf die ersten Zahlen von einem schweren Schlag. „Das ist kein gutes Ergebnis“, bedauerte der 60-Jährige, der vor allem die gescheiterte Ampelregierung dafür verantwortlich macht.
Einige Etagen höher war die Laune deutlich besser. Der neue Bundeskanzler wird wohl Friedrich Merz heißen und der CDU angehören: Dementsprechend positiv fiel das erste Fazit von CDU-Chef Sascha Kurth aus: „Wir haben den Politikwechsel geschafft in Deutschland“, betonte Kurth. „Wir hätten uns sicherlich die ,3‘ vorne gewünscht, aber wir haben einen klaren Regierungsauftrag bekommen.“ Ohne die CDU werde Deutschland in den nächsten vier Jahren nicht regiert.
Im Stadtnorden dagegen war die Luft aus den Partys schnell raus – vor allem bei der FDP im Domgold herrschte eine Mischung aus Trauer und Entsetzen. In diesem Moment ist klar: Die Liberalen werden dem neuen Bundestag sehr wahrscheinlich mit nicht mehr angehören, in Gelsenkirchen kommt die FDP gerade einmal auf etwas mehr als drei Prozent.
„Wir müssen uns jetzt ehrlich machen. Und wir müssen etwas ändern“, zog Susanne Cichos, OB-Kandidatin der FDP, erste Lehren aus der Wahl: „Wenn man den Erfolg der Linken bei jungen Leuten sieht, müssen und werden wir etwa unsere Auftritte auf Social-Media-Kanälen ausbauen und verbessern.“ Immerhin könnte beim Neubeginn der Bundespartei ein Gelsenkirchener ganz vorne mit dabei sein, darauf hofft zumindest Ratsherr Christoph Klug. „Ich finde es schade, dass Christian Lindner offenbar nicht länger als Parteichef zur Verfügung stehen wird. Wenn es so kommt, glaube ich fest, dass Marco Buschmann eine richtige und gute Wahl für die Nachfolge wäre.“ Der jetzige FDP-Generalsekretär musste währenddessen in Berlin die Stellung halten.
Die Grünen haben um 18 Uhr den Saal „Studio“ im Filmpalast „Schauburg“ in Buer komplett gefüllt. 65 Sympathisanten schauten zu. „Es war davon auszugehen, dass alle Ampel-Parteien Stimmen verlieren würden. Von daher ist es erfreulich, dass wir fast unser Ergebnis von 2021 erzielen konnten“, sagt Irene Mihalic, die seit 2013 für die Grünen im Bundestag setzt.
„Im Herbst hatten uns Umfragen noch bei einstelligen Ergebnissen gesehen. Jetzt stehen wir bei rund 13 Prozent. Wir haben uns hochgekämpft. Das ist eine gute Nachricht.“ Ob ihre Partei wieder in die Regierungsverantwortung kommt? „Wir stehen für Sondierungen bereit.“ Die rund 20 Prozent für die AfD bezeichnet Mihalic als „eine Katastrophe“. Das Erstarken von Rechtspopulisten gebe es zwar in ganz Europa zu sehen. „Mit der AfD wäre die Vielfalt in unserem Land am Ende.“
Über die hohe Wahlbeteiligung freut sich die Grünen-Europaabgeordnete Terry Reintke, auch wenn für sie ein Beigeschmack bleibt: „Die 83 Prozent Wahlbeteiligung sind eine gute Nachricht für die Demokratie. Aber es wäre auch gut, wenn noch mehr Menschen als jetzt ihre Stimme einer der demokratischen Parteien geben würden.“
Spinatlasagne, Schampus, auch ein bisschen Kaviar: Bei der AfD wurde gut gegessen und ausgelassen gefeiert. Aber zuvor sprachen die prominenten Gäste, Spitzenkandidat Kay Gottschalk und Landes-Chef Martin Vincentz, vor einem großen AfD-Banner in die Fernsehkameras. „Die CDU muss anschlussfähig werden, das ist sie in diesem Zustand nicht. Merz muss weg“, forderte Gottschalk.
Warum man die größte AfD-Party ausgerechnet in Gelsenkirchen abhält? „Als Mensch, der aus der Arbeiterklasse und der SPD kommt, meine ich: Gelsenkirchen ist ein Beispiel dafür, dass die Transformation nicht gelungen ist“, meinte der ehemalige Sozialdemokrat Gottschalk. „Gelsenkirchen war einst eine stolze, reiche Stadt, heute ist es eine Stadt, die einen Solidaritätszuschlag verdienen würde.“
Als die AfD bei der Auszählung der ersten Gelsenkirchener Ergebnisse knapp bei 40 Prozent lag, da sind dem Linken Martin Gatzemeier und seinen Parteikollegen zwar die „Kinnladen heruntergefallen“, aber als sich das Ergebnis „normalisierte“, da habe man sich wieder über die guten Gesamtergebnisse seiner Partei freuen können. „Bombastisch“ sei es, was seiner Partei gelungen ist, sagte der Linken-Direktkandidat in Gelsenkirchen am Telefon. „Mit diesen Zahlen können wir ganz andere Politik machen.“ Sie seien eine „große Befreiung“ für alle Anwesenden im Werner-Goldschmidt-Salon gewesen, wo die Linke ihre Wahlparty feierte.
Zurück zur AfD. Als etwa 150 Wahlbezirke ausgezählt waren und sich abzeichnete, dass AfD-Direktkandidat Friedhelm Rikowski das Mandat nicht bekommt, sagte Kreissprecherin Enxhi Seli-Zacharias dennoch: „Friedhelm war der richtige Mann!“ Dass es weniger Erst- als Zweistimmen gibt, hänge mit dem „taktischen Wählen“ linkspolitisch eingestellter Wähler zusammen. Die Vermutung: Viele Grünen- und Linkenwähler hätten sich bei der Erststimme dann doch für Markus Töns von der SPD entschieden. „Trotz dieser Maschinerie sind bei der so einer Stärke. Das ist ein Erfolg“, meinte Seli-Zacharias.
Kein Wort der Selbstkritik, etwa dazu, dass ein 68-jähriger Kandidat wie Rikowski nicht da stark sein konnte, wo die AfD viele Wähler erreicht – auf Social-Media-Plattformen und im Netz generell? „Als Typus ist Friedhelm in bestimmten Wählerschichten der bessere Kandidat gewesen“, meint die AfD-Chefin. „Er steht für Kontinuität und hat der CDU sicher wichtige Stimmen gekostet.“
Rikowski selbst stellt sich den vielen nachfragenden Parteimitgliedern auf der AfD-Party in Gelsenkirchen-Feldmark als „Punktesieger“ dar. Dass doch Töns die meisten Erststimmen bekommen hat, sei auch auf Wohlfahrtsverbände und andere Organisation zurückzuführen, die in Gelsenkirchen traditionell der SPD nahestehen. „Die können gewaltig mobilisieren“, sagt Rikowski. Einig sind sich er und seine Parteichefin bei der folgenden Analyse: „Wir sehen, dass der Wille durchaus da ist, die AfD in größerer Verantwortung zu sehen. Deswegen schalten wir jetzt unmittelbar vor der Kommunalwahl voll auf Angriff.“
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Dazu hatte auch Kay Gottschalk noch etwas zu sagen: „Ihr müsst in die Karnevalsvereine, ihr müsst in die Schützenvereine“, appellierte Gottschalk an die Parteimitglieder. „Ihr müsst zeigen, dass die AfD das Normalste von der Welt ist.“
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