Nach Stichwahl: Gelsenkirchen braucht jetzt eine große Show – WAZ


Karin Welge, die jetzt nach der Stichwahl nur noch wenige Wochen Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin ist, war es immer wichtig, nicht zu sehr auf den Putz zu hauen. Ständig betonte sie, sie sei keine Frau für schmissige Schlagzeilen, niemand, der politische Ansagen über öffentliche Verlautbarungen raushaut. Ihre Strategie war es vielmehr, bei Gesprächen hinter der großen politischen Bühne etwas für Gelsenkirchen herauszuholen. Erfolge groß anzukündigen und zu verkaufen, war eher zweitrangig.
Welge war sicher nicht die politische Schauspielerin, die das große Rampenlicht suchte. Vielmehr war sie die Regisseurin, die Drahtzieherin hinter dem Vorhang.
Von Sinan Sat
Ihr damit Unwirksamkeit zu unterstellen, wäre falsch. Zum Beispiel hat Gelsenkirchen 100 Millionen Euro vom Land zugesichert bekommen, um Schrottimmobilien im großen Stil verschwinden zu lassen. Ob die Stadt diesen Betrag wohl auch erhalten hätte, wenn sich Welge regelmäßig medienwirksam darüber echauffiert hätte, wie sehr das arme Gelsenkirchen vom Land im Stich gelassen wird?
Jetzt, nach der Stichwahl, wird Andrea Henze die neue Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen. Das zeichnete sich ab. Schon beim ersten Wahlgang am 14. September standen rund 27.000 AfD-Wählern rund 63.000 Wählern gegenüber, die sich für OB-Kandidaten aus Parteien entschieden hatten, die jede Zusammenarbeit mit der AfD ausschließen.
Selbst wenn es nicht die vielen Wahlempfehlungen für Henze aus den anderen Parteien gegeben hätte, selbst wenn es kein Bekenntnis stadtbekannter Firmenchefs, Persönlichkeiten und Funktionsträger gegeben hätte, wäre die Stichwahl wohl ähnlich ausgegangen. Das AfD-Potenzial ist in Gelsenkirchen noch zu gering.
Wenn Welge den Chefsessel in der fünften Etage des Hans-Sachs-Hauses räumt, übernimmt mit Henze erneut eine Frau, die ein ähnliches Selbstverständnis hat. Die eher beherrscht wirkende Henze ist zwar menschlich ein ganz anderer Charakter als die quirlige Welge. Doch beide sind eher Verwaltungsmenschen als Politikerinnen, mehr Bürokratinnen als Menschenfängerinnen, mehr Regisseurinnen als Schauspielerinnen.
Braucht Gelsenkirchen jetzt nicht genau das Gegenteil – eine starke Schauspielerin, eine große Show?
Die Politik wird sich durch den Wechsel im Rathaus nicht grundlegend verändern. Die großen Probleme – Schrottimmobilien, Integration und Vermüllung – sind erkannt. Und Andrea Henze will vor allem viele der bisherigen Maßnahmen der Stadt weiter ausbauen, von der Stärkung des Ordnungsdienstes und des EU-Interventionsteams über smarte Überwachung bis hin zu häufiger geleerten Containern.
Von Sinan Sat und Gordon Wüllner-Adomako
Ob all das angesichts der vielen Problemlagen in Gelsenkirchen überhaupt seine entsprechende Wirkung entfaltet, ist noch gar nicht ausgemacht. Aber bis die ständigen Schrotthaus-Razzien überhaupt spürbar wirken, bis Problemhäuser verschwunden sind und vernachlässigte Viertel neue Fassaden erhalten, wird weiterhin viel Zeit vergehen.
Die Gelsenkirchener wollen aber nicht mehr warten. Sie haben keine Lust mehr, ihrer Stadt beim dahinsiechen zuzuschauen. Sie wollen, dass sich jetzt etwas verändert. Also muss man ihnen auch jede kleine Veränderung sichtbar machen. Das gelingt nur, wenn Politik anders vermittelt wird als unter Welge: klarer, verständlicher, pointierter.
Warum ist jemand wie Sören Link, der nun auch wiedergewählte Oberbürgermeister in Duisburg, beliebter und bekannter als Karin Welge? Vielleicht, weil seine Ansagen auch abends bei Markus Lanz im ZDF zitiert werden. Weil er Klartext redet. Weil er eben auch mal auf den Putz haut.
Warum ist die AfD so erfolgreich? Auch, weil sie es schafft, ihre Empörung bestmöglich für soziale Medien zu inszenieren. Parteichefin Alice Weidel war nicht umsonst wenige Tage vor der Kommunalwahl mit AfD-Tross, Kameras und Mikrofonen im Gelsenkirchener Problemviertel, um dafür hunderttausende Klicks zu kassieren.
Nachrichten, Service, Reportagen: Jeden Tag wissen, was in unserer Stadt los ist.
Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.
Warum gilt Herbert Reul, der NRW-Innenminister, seit Jahren als einer der glaubwürdigsten Politiker im Land? Weil er seine „Politik der tausend Nadelstiche“ persönlich verkauft, weil er mit dabei ist, wenn vermeintliche Adressen des Clan-Milieus auf den Kopf gestellt werden.
„Wenn man eine Stadt entwickeln will, dann dauert es acht, zehn Jahre, bis man überhaupt erste Ergebnisse sehen kann“, sagte Henze lange vor dem Wahlkampf mal in einem WAZ-Interview. Es wird aber darum gehen, jeden kleinen Schritt bis zum möglichen Erfolg bestmöglich zu präsentieren.
Einer Oberbürgermeisterin, die nicht fürs Rampenlicht gemacht ist, wird das schwerfallen. Aber selbst wenn Henze es schafft, die Effizienz der Stadtverwaltung zu steigern, verkrustete Strukturen aufzubrechen und fähige Köpfe in Schlüsselpositionen zu holen: Solange sie und ihr Team ihre Politik nicht überzeugend vermitteln, solange sie keine starke Inszenierung wagen, wird die Laune in Gelsenkirchen so schlecht bleiben wie sie derzeit ist.
Kennen Sie schon unsere PLUS-Inhalte?
Jetzt WAZ testen
Kennen Sie schon unsere PLUS-Inhalte?
Jetzt WAZ testen
Aktuelle Nachrichten und Hintergründe aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport – aus Essen, Deutschland und der Welt.
Kennen Sie schon unsere PLUS-Inhalte?
Jetzt WAZ testen

source

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*