
Intendant Michael Schulz setzt bei der Eröffnung seiner letzten Spielzeit auf solide musiziertes Kernrepertoire in einer klassischen Inszenierung, die der Tatsache Rechnung trägt, dass man heute weniger denn je die Idee der „Erlösung“ des verfluchten Holländers durch die Treue einer Frau nachvollziehen kann. Die Geschichte wird erzählt aus der kindlichen Sicht der jungen Senta, die die Sage vom fliegenden Holländer gelesen hat, und die die Geschichte träumt. Rasmus Baumann dirigiert einen musikalisch und szenisch ansprechenden „Holländer“ im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Chor und Extrachor, die Neue Philharmonie Westfalen , Statisterie des MiR und ein gutes Solistenensemble begeistern in zwei Stunden 40 Minuten mit einer Pause nach dem zweiten Akt das Publikum. Regisseur Igor Pison verlegt das Stück nach einer Idee von Gabriele Rech in die zeitlose Gegenwart. (Gesehene Vorstellung: Premiere am 27. September 2025)
Das Musiktheater im Revier zeigt einen „Holländer“, der das Meer als unberechenbare Natur mit Musik und Videoprojektion einbezieht. Man ist auf Windkraft angewiesen und hat den Hafen verpasst, weil der Südwind ausgeblieben ist. Die Ouvertüre entwickelt aus den Motiven, die man kennt, die Geschichte. Die zur Ouvertüre gespielte Pantomime der kleinen Senta, die aufsteht, um die Geschichte vom fliegenden Holländer zu lesen, ist Indiz dafür, dass es hier um ihre kindliche Sicht der Dinge geht.
Der Chor und Extrachor des MiR unter der Leitung von Alexander Eberle erzählt die wahre Geschichte. Die schwarz gekleideten Männer des Holländers als Geisterchor verängstigen das Volk, bei dem der Chor die Typen eines ganzen Dorfs darstellt. Die Damen überzeugen im Spinnerinnenlied, das zum Rhythmus von fußbetriebenen Nähmaschinen zeigt, dass auch die Frauen hart arbeiten müssen. Über dem Deck des Schiffes hängen wie in der Waschkaue eines Bergwerks die Wetterjacken der Matrosen, was auf die Industrialisierung im 19. Jahrhundert anspielt.
Richard Wagner ist mit seiner Vertonung der Sage vom fliegenden Holländer, der Heinrich Heines 7. Kapitel der Memoiren des Herrn Schnabelewopski zu Grunde liegt, sein erstes eigenständiges Werk gelungen. Die Chöre der Seeleute haben längst Volksliedcharakter, die Konfrontation des Norwegerchors mit dem Geisterchor ist ein Meisterwerk der Verwendung zweier Opernchöre als dramatische Handlungsträger, und die Dreiecksgeschichte von Senta, dem Holländer und ihrem Verlobten Erik ist einfach nur zeitlos. Das Orchester stellt hohen Wellengang und gefährlichen Sturm dar. Der dreißigjährige Wagner verarbeitete hier seine wilde Überfahrt über die sturmgepeitschte Ostsee von Riga nach England, bei der er in schwerer See um sein Leben bangte.
Kernstück der Handlung ist die Ballade der Senta, in der sie den Frauen des Dorfs die Geschichte des zur ewigen Irrfahrt verdammten Kapitäns erzählt, der bei der Umsegelung des Kaps Horn dem Teufel getrotzt hat und von ihm zu ewiger Verdammnis verurteilt wurde. In Heines Novelle hat Wagner sein Thema gefunden: die Erlösung des Mannes durch die Liebe einer Frau.
Zu diesen Zweck darf der Holländer alle sieben Jahre an Land kommen und versuchen, eine Frau zu finden, die ihm Treue bis zum Tod schwört, was darauf hinausläuft, dass beide zusammen sterben. In Wagners Libretto der Oper finden Senta und der Holländer Erlösung und Verklärung im Tod. Danach entmaterialisiert sich das Schiff des Holländers, und der Spuk ist vorbei. Hier endet Sentas Traum vor dem fatalen Ende. Der Bühnenprospekt mit dem Geisterschiff fällt zu Boden, der Holländer verschwindet. Senta wacht auf, bevor es zur Katastrophe kommt.
Wagner greift alte Seemannsmythen auf und lässt die Sagenfigur des Holländers auftreten, der zu ewiger Wanderung auf den Weltmeeren verurteilt ist und der sich nach dem Tod sehnt. Finstere Mächte und Spuk spielten in der Zeit der Romantik eine große Rolle. In Dalands Haus hängt laut Libretto das Gemälde „eines bleichen Manns mit dunklem Barte und in schwarzer spanischer Tracht“, hier ist es ein Bild vom Schiff des Holländers mit roten Segeln. Der Holländer trägt unter dem langen Mantel eine aufwändige spanische Renaissancetracht. Die magische erste Begegnung Sentas mit dem Holländer findet entrückt auf einer anderen Ebene der Bühne statt, wo sie ein Renaissance-Kleid annimmt, um ihr Einverständnis zur Hochzeit zu signalisieren.
Kostüm- und Bühnenbildnerin Nicola Reichert hat für den Chor individuelle Kostüme geschaffen, Daland trägt unter seinem langen Mantel einen schlichten Anzug, der Geisterchor ist mit flatternden schwarzen Gewändern und Masken ausgestattet und zeigt, dass die Dorfbewohner Angst vor den Eindringlingen – vielleicht auch vor sozialen Veränderungen – haben. Nicola Reichert nutzt ein Einheitsbühnenbild, das im ersten Akt das Deck von Dalands Schiff, im zweiten die Spinnstube und im dritten den Dorfplatz mit Blick auf das Geisterschiff darstellt. Der Holländer und sein Schiff erweisen sich als Spuk. Der Jäger Erik, der Mann, dem Senta vermutlich ursprünglich versprochen war, ist derjenige, der Senta ehrlich liebt. Er spricht sie auf ihre Leidenschaft für den Holländer an und behauptet, sie habe ihm, Erik, doch schon Treue versprochen. Als der Holländer das hört, will er Senta entsagen und sie vor dem Verderben retten. Senta singt: „Hier steh ich, treu dir bis zum Tod“. Aber anstelle von Sentas Freitod im Meer fällt das Seestück, das das Schiff des Holländers auf hohen Wellen zeigt, als Stoff zu Boden und enthüllt den nackten Bühnenhintergrund. Sentas kindlicher Traum ist zu Ende.
Die Titelrolle verkörpert der Bariton Benedict Nelson nicht als schwerer Held, sondern eher skrupelbehaftet. Man glaubt ihm, dass er unter dem Fluch, bis zum Ende aller Zeiten zum Leben verdammt zu sein, leidet, den er in seinem Auftrittsmonolog: „Die Frist ist um“ schildert. Seine Entsagung ist glaubhaft. Er ist ehrlich: „Die düstre Glut, die hier ich fühle brennen, sollt´ ich Unseliger sie Liebe nennen? Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil…“ Er macht eine Entwicklung durch und will Senta nicht ins Verderben stürzen, sondern freiwillig auf seine Erlösung verzichten.
Tobias Schabel ist ein authentischer schlanker Daland. Liebender Vater, der für seine Tochter nur das Beste will, einen reichen Mann; erfahrener Kapitän und Seefahrer, dessen Autorität von seiner Mannschaft respektiert wird; geschäftstüchtiger Kaufmann, der sofort seinen Vorteil im Handel mit dem Holländer sieht.
Susanne Serfling ist eine sehr jung wirkende Senta, die in der Ballade mit treffsicheren Höhen und dramatischer Verve auftrumpfen konnte. Ihr zur Seite stand die junge Senta Marie Wöhrl in der Pantomime. Das Duett Senta-Holländer wurde etwas getrübt durch die laute Mechanik der Bühne, die für die Begegnung Sentas mit dem Holländer einen anderen Raum in einer anderen Zeit öffnete, die die filigrane Musik störte.
Martin Homrich als Erik verkörperte die Stimme der Vernunft und versuchte vergebens, Senta dazu zu bringen, von ihrer unseligen Besessenheit vom Holländer abzulassen. Er erfüllte die undankbare Partie des verlassenen Liebhabers, der gegen seinen charismatischen Rivalen keine Chance hat, mit großem Engagement und schönen lyrischen Passagen. Adam Temple-Smith als Steuermann durfte sogar seine Braut heiraten. Er glänzte durch einen gut geführten lyrischen Tenor. Sentas Amme Mary war Almuth Herbst. Sie hatte Senta früher (Anna Lucia Lens) die Geschichte vom Holländer erzählt und fürchtete um Sentas Leben, weil ihr die Gefahr, die vom Holländer ausging, bewusst war.
Zusammen mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, die die Naturgewalten schilderte, und dem großen Chor, der das Seemannskolorit beisteuerte, war das Musikerlebnis überwältigend. Die bis auf die Verlegung in die zeitlose Neuzeit werkgetreue Inszenierung erzählte eine Geschichte, die auch Kinder ab 12 Jahren verstehen können. Unbedingt sehenswert!
Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.
Antworten