Karin Welge: „Dieses System ist für viele Menschen nicht mehr zu durchschauen“ – WAZ


Karin Welge ist in ihrem letzten Interview vor Ende ihrer Amtszeit hart mit dem aktuellen Zustand der Demokratie in Deutschland ins Gericht gegangen. „Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir in Deutschland ein System geschaffen haben, das für viele Menschen gar nicht mehr zu durchschauen und auch nicht mehr zu ,handeln‘ ist“, betonte die Sozialdemokratin, die am Freitag (31. Oktober) ihre fünfjährige Amtszeit als Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen beendet. „Das ist mein Vorwurf an die gesamte Politik der vergangenen Jahrzehnte: dass wir viele Bereiche mit vielen kleinen Ideen immer weiter verkompliziert haben“, betonte die 63-Jährige.
In unzähligen ihrer Reden hatte Welge in den vergangenen Jahren für Demokratie geworben, jedoch muss man den derzeitigen Modus der parlamentarischen Entscheidungsfindung aus ihrer Sicht überdenken: „Wir sollten Politik so einfach gestalten, dass die Menschen sie verstehen können“, forderte das scheidende Stadtoberhaupt. „Wenn es um neue Gesetze und politische Initiativen geht, sei man in Deutschland mittlerweile viel „zu kleingeistig“. „Wir müssen aufpassen, dass wir in unserer Demokratie nicht bequemlichkeitsverdummen.“
Diese Entwicklung sieht Welge auch als einen Grund dafür, warum das Wachstum der AfD in den vergangenen Jahren besonders in Gelsenkirchen, aber auch in vielen anderen Städten nicht aufzuhalten war. „Wenn ich mich um Nichtigkeiten kümmere, kleine Probleme bespiele und die großen gesellschaftlichen Entwicklungen außer Acht lasse, ist das schädlich“, so Welge.
Gelsenkirchen kämpft seit Jahren dafür, dass Probleme wie die Konsequenzen der EU-Armutszuwanderung, die enormen Integrationsherausforderungen oder der Sozialleistungsmissbrauch im Zusammenhang mit Schrotthäusern mehr Beachtung finden. Zuletzt sind diese Themen verstärkt auf der bundes- und landespolitischen Agenda gelandet: Nach einer Konferenz mit Vertretern von 15 Städten, Experten für Integration und der Bundesagentur für Arbeit im Duisburger Rathaus verkündete Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) weitere Maßnahmen, um gegen Missbrauch von Leistungen vorzugehen. Auch das Land NRW hatte kürzlich erst einen Antrag im Bundesrat gestellt mit dem Ziel, Sozialbetrug effektiver zu bekämpfen.
Laut Karin Welge ist es auch höchste Zeit, dass die Appelle aus Gelsenkirchen endlich ihre Früchte tragen. „Wenn die Politik nicht allmählich kapiert, wo die Probleme liegen, wenn sie nicht versteht, dass wir in Gelsenkirchen das Brennglas für viele Entwicklungen sind, dann tut sie sich und der Demokratie in Deutschland keinen Gefallen“, unterstrich sie.
Karin Welge ist seit dem 1. November 2020 Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen. In der Stichwahl setzte sie sich damals deutlich gegen Malte Stuckmann von der CDU durch. Ihren ersten Job in einem Verwaltungsvorstand übernahm die studierte Juristin 1998 als Erste Beigeordnete für die Bereiche Finanzen, Soziales, Kultur, Bildung, Sport und Liegenschaften in Xanten. Nach Gelsenkirchen kam die gebürtige Saarländerin im Jahr 2011, als sie zur Beigeordneten für Arbeit und Soziales, Gesundheit und Verbraucherschutz gewählt wurde. 2015 übernahm sie dann das Amt der Kämmerin. 2019 wurde sie zusätzlich Stadtdirektorin und damit Vertreterin des damaligen Oberbürgermeisters Frank Baranowski.
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Ende 2024 erklärte Welge, nicht erneut als Oberbürgermeisterin antreten zu wollen. Damit machte sie den Weg frei für Sozialdezernentin Andrea Henze, die bei der Stichwahl gegen Norbert Emmerich von der AfD gewinnen konnte und ihr Amt am 1. November antreten wird.
>> Lesen Sie hier das komplette Interview: „Mein Anspruch war es, geile Arbeit zu machen“: Karin Welge über ihre Amtszeit
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