
Gelsenkirchen hat viele Bahnhöfe: Den Hauptbahnhof natürlich, aber auch Haltepunkte wie Buer-Nord, Buer-Süd, Gelsenkirchen-Zoo oder Gelsenkirchen-Rotthausen sind den ÖPNV-Nutzerinnen und -Nutzern ein Begriff. Aber Hand aufs Herz: Wer hat schon einmal von einem Bahnhof namens „Gelsenkirchen-Wattenscheid“ gehört? Doch, den gibt es – nur Züge halten dort schon lange nicht mehr.
Stattdessen fahren dort, wo früher einmal vor allem Güterzüge mit Kohlen zwischen den Zechen verkehrten, heute vor allem Fahrräder. Die Erzbahntrasse, einer der beliebtesten Radwege im Ruhrgebiet, führt hier vorbei – der Name des Radweges lässt ja schon vermuten, dass er auf einer ehemaligen Eisenbahnstrecke verläuft. Um das alte Bahnhofsgebäude zu sehen, muss man aber als Radfahrer sehr aufmerksam sein und vermutlich anhalten: Es versteckt sich hinter Bäumen und Büschen, am besten ist noch das Dach zu sehen, und das ist voller Löcher.
Während viele Gelsenkirchener, zumal die aus dem Norden der Stadt, wohl eher wenig mit einem Bahnhof Gelsenkirchen-Wattenscheid anfangen können, ist das für Werner Müller natürlich ein geläufiger Begriff. Der Heimatforscher, Mitglied im Heimatbund Gelsenkirchen, war früher selbst Eisenbahner, ist mittlerweile im Ruhestand und hat jetzt den zweiten Band in der Reihe „Eisenbahn in Gelsenkirchen“ herausgebracht. Ging es im ersten Band noch um den Hauptbahnhof, so hat er sich jetzt den Bahnhof Gelsenkirchen-Wattenscheid sowie die Carolinenglücker, die Kray-Wanner Bahn und die Erzbahntrasse vorgenommen.
Müller ist 66 Jahre alt, kommt aus Gelsenkirchen und hat sich fast sein ganzes Leben mit dem Thema Eisenbahn beschäftigt, sowohl beruflich als auch privat. „Ich habe 1973, mit 15 Jahren, bei der Deutschen Bundesbahn angefangen“, erzählt er. Dem damaligen Staatsbetrieb blieb er treu, auch als daraus in den 90er-Jahren das Privatunternehmen Deutsche Bahn wurde. Das Thema Eisenbahn hat ihn nicht losgelassen. 2019 sei er vom Vorsitzenden des Heimatbundes angesprochen worden: „Wir haben so viele Themen, aber zur Eisenbahn haben wir noch nie etwas gemacht“, hieß es damals. Müller war wegen seiner beruflichen Vergangenheit der logische Kandidat für so eine Aufgabe.
Mit Akribie ging er an die Aufgabe, verbrachte viel Zeit in Archiven, wühlte sich durch alte Akten und Zeitungsberichte. Von „Ruhestand“ konnte in den vergangenen Monaten keine Rede sein, sagt er: „Ich hatte meistens eine 40-Stunden-Woche.“ Denn während es zum Gelsenkirchener Hauptbahnhof relativ viel Material gibt, musste Müller in Sachen Gelsenkirchen-Wattenscheid viel tiefer in die Materie eintauchen. Doch das ist ihm gelungen: Der neue Band, der jetzt erhältlich ist, strotzt nur so vor Details.
Und es wirft ein interessantes Bild auf das noch junge Ruhrgebiet, das Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Aufstieg des Kohlebergbaus rasant zu wachsen beginnt. Überall schießen die Zechen aus dem Boden, und weil die geförderte Kohle transportiert werden muss, wächst auch der Bedarf an Eisenbahnlinien – vor allem auf dem Gebiet des heutigen Bochum. Die 1847 eröffnete Köln-Mindener war, anders als von den Bochumer Zechen gewünscht, durch das nördlicher gelegene Emschertal geführt worden. „Um nicht benachteiligt zu werden, plante man, auf eigene Kosten zu bauen“, berichtet Müller. Und weil der Vorreiter der Aktion die Zeche Carolinenglück war, wird die neue Strecke „Carolinenglücker Bahn“ genannt.
Diese beginnt am Gelsenkirchener Hauptbahnhof und steuert mehrere Zechen an, unter anderem Holland, Hannover und Königsgrube, und trifft dann in Wanne-Eickel wieder auf die Köln-Mindener Eisenbahn. 1867 wird das Bahnhofsgebäude errichtet und der Güterverkehr aufgenommen, bereits ein Jahr später auch der Personenverkehr. Der Bahnhof heißt zunächst noch „Wattenscheid“, als das Amt Ückendorf 1876 eigenständig wird, wird der Name im Jahr 1879 in „Ückendorf-Wattenscheid“ umbenannt. Diesen Namen trägt er allerdings auch nicht lange: 1903 wird Ückendorf von Gelsenkirchen eingemeindet, seitdem heißt die Station „Gelsenkirchen-Wattenscheid“. Immer wieder, sagt Werner Müller, habe es Versuche gegeben, den Bahnhof in „Gelsenkirchen-Ückendorf“ oder „Gelsenkirchen-Süd“ umzubenennen, das sei aber regelmäßig fehlgeschlagen.
„Der Bahnhof war sehr bedeutend für Gelsenkirchen“, sagt Müller, „beim Güterverkehr belegte er unter den Bahnhöfen der Stadt lange Zeit den zweiten Platz, beim Personenverkehr, was die Anzahl der verkauften Fahrkarten angeht, den dritten Platz.“
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All das lässt sich in Müllers neuestem Werk nachlesen – auch, dass 1960 der Personenverkehr an dem Bahnhof aufgegeben wurde. Nach und nach wurden weitere Gleise und Strecken aufgegeben. Anfang des Jahrtausends gibt es noch Pläne, den „Metrorapid“ an dem Bahnhof vorbeizuführen, dazu kommt es aber nicht. Stattdessen ersetzt ein Fahrradweg die Schienen: Ab 2002 gehörte die Erzbahntrasse zu den ersten Bahnstrecken, die der Regionalverband Ruhr in Radwege verwandelte.
Das Heft „Eisenbahn in Gelsenkirchen – Teil 2“ ist erhältlich in den Filialen der Buchhandlung Kottmann, in der Stadt- und Touristinfo des Hans-Sachs-Hauses sowie beim Heimatbund Gelsenkirchen.
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