„Am schönsten ist es abends im Dunkeln – wenn es ein bisschen stinkt“ – Rheinische Post


Gelsenkirchen · Kaum irgendwo in Westdeutschland ist die Alternative für Deutschland stärker als in Gelsenkirchen. Im Stadtteil Scholven gewann sie am eindeutigsten: Jede dritte Stimme ging an die AfD. Warum ist das so? Ein Ortsbesuch.
Ruhrgebietsromantik: Der Blick auf die Raffinerie der Ruhr Oel GmbH, gewissermaßen Wahrzeichen von Gelsenkirchen Scholven.
Es gibt Orte in Deutschland, die nur noch für Diagnosen herangezogen werden, wenn es darum geht, soziodemografische und wirtschaftspolitische Zustände aufzuzeigen. Gelsenkirchen ist so ein Beispiel. Hohe Arbeitslosenquoten, schlechter Ruhrgebietsfußball, die meisten AfD-Stimmen bei Wahlen – wann immer möglich, scheint die Stadt mit Negativschlagzeilen verbunden. Daran änderte auch Taylor Swifts Stippvisite vergangenen Sommer nicht viel, nachdem britische Fußballfans während der EM das „Shithole“-Image Gelsenkirchens in die weite Welt trugen.
Bundesweite Aufmerksamkeit bekommt die Stadt seit dem Wahlabend wieder einmal als westdeutsche AfD-Hochburg. Gute zweistellige Ergebnisse erzielte die Partei zwar landauf und -ab, auch die 20-Prozent-Marke knackte sie in einigen Wahlkreisen Nordrhein-Westfalens. Gelsenkirchen aber stach erneut heraus – als einzig blauer Fleck des Landes, als einziger von der AfD gewonnener Wahlkreis mit den meisten Zweitstimmen. Mit 24,7 Prozent zu 24,1 Prozent löste die AfD die einstige Arbeiterpartei SPD an der Spitze ab – 690 Stimmen machten am Ende den Unterschied. Im Gelsenkirchener Stadtteil Scholven war das Votum so klar wie nirgends sonst: 33,42 Prozent der Zweitstimmen gingen an Weidels Partei – jede(r) Dritte wählt hier AfD.
Dabei ist Scholven auf den ersten Blick kein Statistik-Ausreißer, schon gar nicht im stadtinternen Vergleich: Hier lebten und leben um die 10.000 Einwohner und damit verhältnismäßig wenige Menschen auf großer Fläche. Der Ausländeranteil liegt (Stand Ende 2023) mit 18 Prozent unter dem Gelsenkirchener Durchschnitt von 26 Prozent. Und für eine verhältnismäßig geringe Arbeitslosenquote dürften die Großraffinerie und das Kraftwerk sorgen, die wirtschaftlichen Nachfolger der Kohleindustrie – damals wie heute Segen und Fluch zugleich für Scholven. Schließlich sind sämtliche Siedlungen vor allem deshalb entstanden: Ein-Familien-Zechen-Häuschen mit großen Gärten sowie etliche Werkswohnungen – beides heute noch zu erschwinglichen Preisen zu bewohnen. Manchmal offenbar zu günstig.
So jedenfalls beschreibt Axel Büttner, Diakon der Gemeinde St. Josef in Scholven die Situation: Viel preiswerter, kleiner Wohnraum bedeute viele Montagearbeiter statt Familien, eher Bürgergeldempfänger statt Besserverdiener. „Wir haben auch Menschen mit Problemen wie Einsamkeit, Armut, Alkohol, die das Bild prägen“, sagt Büttner, „aber eigentlich überwiegt das Positive.“ Seit zwanzig Jahren ist er nun hier, seit zehn Jahren heißen die Räumlichkeiten der Caritas an der Hauptverkehrsstraße im Ort „Quartiersprojekt Scholven“. Eine Anlaufstelle wolle man sein, zwei hauptamtliche Kolleginnen seien für Anliegen aller Art da: Familienberatung, Frühstückstreffs, Ferienangebote, Deutschkurse, internationale Kochabende – an Angeboten mangele es nicht, allerdings an Menschen, die sie annehmen.
Axel Büttner, Diakon der Gemeinde St. Josef in Gelsenkirchen Scholven.
Der Diakon führt durch den Ort, an dem ein Drittel AfD gewählt hat und der eigentlich alles hat: eine Bäckerei, einen großen Supermarkt, Friseurläden, eine Fahrschule, ein griechischer Imbiss, ein Dönerladen, eine Poststelle, eine Sparkasse, zwei Grundschulen, vier Kindergärten. Aber eben auch: Eine verlassene Metzgerei, eine verrammelte Pizzastube, ein Marktplatz, auf dem kein Markt mehr stattfindet. Und das, was Büttner nur „die Schrottimmobilien“ nennt: Jahrelang leer stehende, mit Holzbrettern vernagelte Gebäude, zu denen zwei große Wohnhäuser und die Katholische Kirche zählen, die 2018 wegen Gemeindezusammenlegung geschlossen wurde. Immobilienspekulation, eine vorübergehende Flüchtlingsunterkunft und der Schwund der Gläubigen – fast schon symbolisch bildet ein Wohnblock in Gelsenkirchen Scholven die großen Gesellschaftsthemen ab.
„Wir haben hier alle Sorgen, die es anderswo auch gibt“, sagt Diakon Büttner. Aber wie überall sonst hätten sie auch hier nicht ihren Ursprung, der Krieg, die Energiekrise, die Folgen der Pandemie. Es gebe viel Sozialneid, sagt er, „aber ich verstehe nicht weshalb“. Im Sommer säßen die bulgarischen Familien draußen und genössen den Sommer, aber es mische sich nicht durch. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise hätten Bürger eine alte Hauptschule umgerüstet, „die Solidarität war groß. Doch sobald es nebenan nicht mehr jeden Tag still war, weil dort Menschen wohnten, fingen Nachbarn sich an zu beschweren.“ Auch generell: Der Stadtteil habe eine der geringsten Kriminalitätsraten Gelsenkirchens – das Gefühl sei ein anderes.
Direkt an der Durchgangsstraße durch den Ort hier gibt es einige leer stehende Immobilien.
Angst, Neid und Frustration sind die Währung, mit der die AfD bei der Bundestagswahl so viel Stimmen kassiert hat wie nie zuvor. Dass das auch im Westen greift, liegt auch am Wandel, dessen Ende nicht absehbar ist, im Fremden, das viele nicht gegen das Gewohnte tauschen wollen. In Gelsenkirchen liegt der Grund sicher nicht allein an Menschen mit Migrationshintergrund, die hat es auf den Zechen immer gegeben. Von Dutzenden Passanten auf der Straße will auf Nachfrage niemand AfD gewählt haben. „Ich bin schockiert“, sagen Jüngere, „Ich kann das einfach nicht begreifen“, sagen Ältere. Niemand hat eine Erklärung, warum hier? Woanders sei es auch nicht besser.
Es mögen Nachrichten sein wie die des Mineralölkonzerns BP, der seine Raffinerie nun verkaufen will, was wieder 2000 Arbeitsplätze betrifft. Es mögen die Schrottimmobilien sein, die mit dem Weggang von Montagearbeitern noch stärker das Bild prägen könnten von Ecken, in die es kaum noch junge Menschen zieht. Dabei gibt es Schulen, Kindergärten und Drei-Zimmer-Wohnungen für unter 500 Euro Monatsmiete. Und ein Kraftwerk, über das Ruhrgebietsromantiker Googlebewertungen schreiben wie „Am schönsten ist es abends im Dunkeln, wenn die Fackeln kilometerweit zu sehen sind und es ein bisschen stinkt.“

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