Er ist Experte und Top-Sportler – und trotzdem heroinsüchtig – WAZ News


Gelsenkirchen. Zwei Gelsenkirchener erzählen vom Stoff, aus dem der Alltag ist – von Heroin, Alkohol und Tabletten, aber auch von Schuld, Scham und Verbrechen.
Wenn sie einen „Affen bekommen“, ist Alarm. Denn der Affe bedeutet „Schmerzen“. So starke Schmerzen, „dass man die Tapete von den Wänden kratzt“. So beschreiben Ingo und Sabine ihre Qual, wenn ihr Körper auf Drogenentzug ist, wenn alles in ihnen nach dem nächsten Rausch schreit.
Ingo und Sabine (*) sind süchtig, der 56-Jährige ist von Heroin abhängig, die 40-Jährige verlangt es nach einer Vielzahl von Rauschmitteln – von Amphetaminen über Cannabis bis hin zu Alkohol, Heroin und Medikamenten: „Ich bin polytox. Das heißt: Alles, was ich in die Finger bekomme, konsumiere ich.“ Hauptsache, es löst für eine Weile Glücksgefühle aus oder sorgt für innere Ruhe.
Ihre Lebenswege sind weitestgehend konträr, es gibt nur wenige Gemeinsamkeiten. In die Klischee-Schublade vom Junkie, der wie ein Zombie betäubt in irgendwelchen Winkeln der Stadt herumhängt, passen die beiden Gelsenkirchener gar nicht. Im Kreis mit Barbara Röhrig vom Gelsenkirchener Kontaktzentrum, die die beiden betreut, erzählen sie vom Leben am Abgrund. Klar fokussiert, schonungslos. Wie es ist, wenn einen das Gewissen plagt, weil „man Eltern, Freunde und Bekannte nach Strich und Faden belügt und betrügt“, nur um den nächsten Trip bezahlen zu können; oder sogar Verbrechen begeht.
Ingo entdeckte die Drogen erst spät, im Alter von 38 Jahren begann es, „schleichend“.  Alkohol, ein bisschen Gras, zehn Jahre lang ging das gut. Bis er eines Tages aus „Neugier und Übermut“ bei einer Runde mit Kollegen Heroin angeboten bekam. Er hat sogar welches dabei und zeigt es bereitwillig, ein braunes feines Pulver. Seither kämpft er gegen die Sucht an. „Reines Heroin macht nicht abhängig, davon kommst du einfach wieder runter“, sagt der Gelsenkirchener. Das Schlimme seien die Zusätze, der Cocktail aus beigemischten Chemikalien, ein Mix aus Tabletten – Stoffe, die die innere Hölle freisetzen. Röhrig nickt zustimmend.
„Man muss Scheiße fressen, um zu wissen, wie sie schmeckt.“
Sabine zog es viel früher in den Drogensumpf, mit 14. Ihre Familie ist vorbelastet, ihr Vater ist trockener Alkoholiker. Zigaretten, Alkohol, Marihuana, so fing es im Freundeskreis an, bis eines Tages ihr Cousin Heroin mitbrachte; unwissentlich inhalierte sie die Substanz, er hatte diese als „Shore“ bezeichnet. Was hinter den Namen stecke, wusste sie nicht. 19 Jahres alt war die Gelsenkirchenerin, als das Blech, das sie rauchte, (Heroin in Alufolie) ihr den Boden unter den Füßen wegzog.
Ingo ist ein Ausnahmefall. Denn seine „Sucht ist weitgehend ein Geheimnis“. Der Facharbeiter geht bis heute einer geregelten Arbeit nach. Bis auf die Helfer bei der Drogenberatung, seiner Mutter und seinem Arzt weiß niemand von seiner Krankheit. Und: Er ist Vater eines Sohnes. Ihm ist es ein Anliegen, mit einem gängigen Klischee aufzuräumen: „Süchtige liegen nicht paralysiert in der Ecke herum. Man kann sich als Drogenabhängiger völlig normal verhalten.“ Selbst Leistungssport ist ihm möglich, Sport, bei dem er ebenso viel Konzentration braucht, wie eine ruhige Hand.
Sabines Familie weiß, dass sie auf Droge ist. Die 40-Jährige hat eine Ausbildung abgebrochen. Ihre Schwester begleitet sie häufig zum „Kontaktcentrum“, so auch an diesem Tag, an dem die beiden mit der WAZ sprechen wollen. Dass sie das Sorgerecht für ihre Tochter noch besitzt, hat viel damit zu tun, dass die Verwandtschaft Verantwortung übernimmt, wenn die 40-Jährige dazu nicht mehr in der Lage ist. Ein Glücksfall. Aber auch ein ewiger Kampf, der alle Beteiligten auf eine harte Probe stellt. Nicht selten gab’s dicke Luft.
„Wer das nicht am eigenen Leib erfahren hat, kann nicht nachvollziehen, was man durchmacht als süchtiger Mensch“, stellt Sabine vorab klar. Sie spricht sehr leise. „Ich bin oft bei meinem Vater, alleine ist es viel schwieriger, damit klarzukommen. Mein Vater muss mich einschließen, wenn’s mich überkommt. Ansonsten würde ich türmen, über den Balkon klettern und abhauen. Und wer weiß, was dann geschieht“, sagt die 40-Jährige. Sie blickt beschämt zu Boden.
Die Statistiken darüber, wie viele Menschen in Deutschland abhängig sind, weisen erhebliche Unterschiede auf. Aus der Suchthilfestatistik für 2023 geht hervor, dass es in Deutschland insgesamt rund 147.000 Abhängige gibt. Der Großteil, rund 74.000, hat ein Alkoholproblem, es folgen: Cannabis (rd. 27.000), Opioide (rd. 13.000), weitere Stimulanzien (rd. 8000) und Spiele/Medien (rd. 8000).
Die Bundesregierung nennt andere Zahlen: Demnach sind 1,6 Millionen Menschen alkoholabhängig. Schätzungen legten nahe, dass bei 2,9 Millionen Menschen ein problematischer Medikamentenkonsum vorliegt. Rund 1,3 Millionen Menschen wiesen einen problematischen Konsum von Cannabis und illegalen Drogen auf. Etwa 1,3 Millionen Menschen hätten eine glücksspielbezogene Störung.
Die Fachbereichsleiterin der hiesigen Drogenberatungsstelle „Kontaktcentrum“ sagt: „NRW und Gelsenkirchen gelten als belastet“. Sie schätzt die Dunkelziffer als hoch ein.
Dem aktuellen Lagebild Rauschgiftkriminalität des Landeskriminalamtes ist zu entnehmen, dass die Polizei im Jahr 2022 rund 52.000 Konsumdelikte registriert hat. Im Zehn-Jahres-Vergleich zeigt die Zahl der Rauschgifttoten eine weiterhin steigende Tendenz. Die Zahl der Rauschgifttoten befindet sich laut LKA auch im zweiten Jahr in Folge auf Rekordniveau – 702 Drogentote waren es. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS) beziffert die Zahl drogenbedingter Toter dagegen auf 1990 (2022).
Studien zeigen, dass etwa 40 bis 60 Prozent der Personen innerhalb von 30 Tagen nach dem Verlassen einer stationären Drogen- und Alkoholbehandlungseinrichtung einen Rückfall erleiden und bis zu 85 Prozent innerhalb des ersten Jahres einen Rückfall erleiden.
Sie hat „Schuldgefühle“, die sie „nicht loswird“, weil die Sucht oft stärker war als der innere Kompass. So stark, dass das Verlangen das Gewissen ausgeschaltet und sie Straftaten begehen lassen hat, für die sie auch schon im Gefängnis büßen musste. Diebstahl, Körperverletzung, Raub, Prostitution, in der Regel sind das die Glieder einer klassischen Eskalationskette im Drogenmilieu. Da sind das Geldleihen von Angehörigen oder das Stehlen aus deren Brieftaschen noch die harmlosesten Vergehen, „dies ist nur die Startphase“.
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Hinter Gittern saß Ingo zwar noch nicht, viel hat ihm zufolge aber nicht mehr gefehlt. Auch er rutschte in die Beschaffungskriminalität ab. Seinen Tiefpunkt erreichte er, als er sich nachts nach auf allen Vieren Essen suchend in einer Schrebergartenanlage wiederfand. Ein Absturz, der ihn geprägt hat, aus dem er eines gelernt. „Man muss Scheiße fressen, um zu wissen, wie sie schmeckt.“ Kurz darauf stand er vor einem Richter. „Der hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt: Knast oder Entgiftung.“
Mit Blick auf ihre Kinder und Familien haben sich Sabine und Ingo für den Entzug entschieden. Ihr Ziel ist eine stationäre Entwöhnungsbehandlung in einer Klinik, um wieder clean zu werden, der geht über Monate. Was aber nicht so einfach ist. Denn ihre Körper müssen erst einmal „langsam und über einen längeren Zeitraum herunter gepegelt werden“. Das geschieht durch Substitution, beispielsweise durch „Methadon oder Polamidon“, wie Barbara Röhrig erklärt.
Das sind Ersatzstoffe, die allerdings starke Nebenwirkungen verursachen können: Verstopfung, Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, Schlafstörungen und Müdigkeit. Hinzu kommt Benzodiazepin, „Benzos“ genannt, die als Angstlöser und Beruhigungsmittel begleitend eingesetzt werden, „denn Süchtige leiden in solchen Phasen oftmals unter großer Unruhe und Stress“, so Röhrig weiter.
Aber auch die Benzos haben es in sich – sie sind verantwortlich für Störungen in den Bewegungsabläufen, Schwindel und Muskelschwäche, was die Sturzgefahr erhöht. Weitere Nebenwirkungen sind unter anderem eine langsame oder verwaschene Sprache, Sehstörungen, Übelkeit und Durchfall.
„Es gibt nicht viele Ärzte, die Abhängige substituieren. Wohl, weil es dem Ruf der Praxis schadet.“
„Die Ersatzdrogen machen auch süchtig, verhindern aber meistens, dass man wieder kriminell wird“, benennt Ingo das Ziel hinter der ärztlichen Medikation. Der 56-Jährige ist einmal pro Woche beim Arzt und holt sich täglich abends nach der Arbeit in der Apotheke die Ersatzdrogen ab, oft geht er danach noch zum Training. Ähnlich verfährt Sabine. Viele Ärzte können die beiden in Gelsenkirchen nicht ansteuern. Sie erklären es sich damit, dass „der gute Ruf“ der Praxen sonst leide. Röhrig nickt bestätigend. Laut Suchthilfeatlas hat sich die Zahl substituierender Ärzte in NRW von 2.650 (2014) auf 2.436 (2023) verringert.
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Welche Chancen geben sie sich, dem Drogensumpf zu entkommen? „Sucht ist nicht heilbar“, sagt Sabine. Ihre Hoffnung ist, aus Rückfällen genug positive Energie schöpfen zu können, wieder aufzustehen und den Kampf fortzuführen, solange er auch dauern mag. „Man muss sich jeden Tag aufs Neue entscheiden, abstinent zu bleiben.“
Ingo geht sogar noch weiter. „Ich habe gesehen, wie meine Familie unter meiner Sucht leidet. Ich will das nicht mehr. Ich will damit endgültig abschließen, aber diese Kraft hat nicht jeder.“
*(Namen von der Redaktion geändert)
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