
Mit 24,7 Prozent der Zweitstimmen liegen die Rechtsextremen in der Ruhrgebietsstadt vor der SPD. Wie erklären sich das die demokratischen Parteien?
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Zur Party in der Revierstadt angesagt hatten sich nicht nur Kreissprecherin Enxhi Seli-Zacharias, die einzige Frau in der 12-köpfigen Landtagsfraktion, und der auf Platz 1 der Landesliste gesetzte NRW-Spitzenkandidat Kay Gottschalk. Auch der Chef der NRW-AfD, Martin Vincentz, wollte nicht in der Landeshauptstadt Düsseldorf, sondern in Gelsenkirchen-Feldmark feiern – schließlich hofften die Rechtsextremen hier, mitten im Ruhrgebiet, im einstigen Herzen der Sozialdemokratie, ein Direktmandat erringen zu können.
Doch die Hoffnung erfüllte sich nur in Teilen. Zwar holte die AfD mit 24,7 Prozent die meisten Zweitstimmen und lag damit leicht vor der SPD, für die sich 24,1 Prozent er Wähler:innen entschieden. Im gesamten Westen der Republik gelang den Rechtsextremen das sonst im vom Niedergang der Textilindustrie getroffenen Kaiserslautern, wo sie mit 25,9 Prozent einen Punkt vor der CDU lag.
Den Kampf um das Direktmandat gewann die AfD in Gelsenkirchen nicht: Mit 31,4 Prozent direkt gewählt wurde der Sozialdemokrat Markus Töns, der seit 2017 Bundestagsabgeordneter ist. Dennoch entschieden sich 25,8 Prozent der Wähler:innen für den Kandidaten der AfD, den knapp 70-jährigen einstigen Verwaltungsbeamten Friedhelm Rikowski. Der mischt seit 30 Jahren in der Gelsenkirchener Lokalpolitik mit, war nach seiner Zeit bei der CDU zur Partei des über seinen Kokainkonsum gestolperten, heute in einer brasilianischen Favela lebenden einstigen Hamburger Innensenator Ronald Schill gewechselt.
„Historisch“ sei der „Triumph“ in Gelsenkirchen trotzdem, verkündete er in Ruhrgebiet geeilte AfD-Landeschef Vincentz prompt. Mit insgesamt 16,8 Prozent habe seine Partei auch in NRW ein „Rekordergebnis“ eingefahren, erklärte der 38-Jährige – dabei liegt sein Landesverband im bevölkerungsreichsten Bundesland, das im neuen Bundestag 136 der 630 Mandate besetzt, deutlich unter dem bundesweiten AfD-Ergebnis von 20,8 Prozent. Vincentz sieht seine Partei dennoch „auch in NRW auf dem Weg zur Volkspartei“.
In Gelsenkirchen aber blicken Politiker:innen etwa von SPD, Linken und Grünen mit Sorge auf das AfD-Ergebnis. Natürlich gebe es keinerlei Rechtfertigung, die in weiten Teilen rechtsextreme AfD zu wählen, sagt etwa der direkt gewählte Sozialdemokrat Töns. Dennoch sei deutlich, warum die migrations- und menschenfeindliche Rhetorik der AfD gerade in einer Stadt, in der viele um ein auskömmliches Leben kämpfen müssen und andere die Hoffnung darauf längst aufgegeben haben, bei so vielen Wähler:innen ankomme: Gelsenkirchen sei eben nicht nur „geprägt durch hohe Arbeitslosigkeit“, sondern auch durch ein „geringes verfügbares Durchschnittseinkommen von gerade einmal 18.000 Euro“, erklärt Töns.
Dazu komme „Armutszuwanderung aus Südosteuropa, vor allem aus Rumänien und Bulgarien“. Und die belaste „die Integrationskraft wie sonst nur in Dortmund, in Duisburg, im Essener Norden“ – in vielen Teilen verarmten Norden des Ruhrgebiets hat die AfD überdurchschnittlich stark abgeschnitten. Viele der Zuwanderer aus Südosteuropa hätten „keinen Berufsabschluss, oft nicht einmal einen Schulabschluss“, klagt der Sozialdemokrat – und seien deshalb „in einen schwierigen Arbeitsmarkt wie in Gelsenkirchen“ nicht zu integrieren.
„Die Wählerinnen und Wähler sehen dann nur: Diese Zuwanderer arbeiten oft nur wenige Stunden in der Woche – und leben ansonsten von Sozial- und Transferleistungen“, glaubt Gelsenkirchens direkt gewählter SPD-Bundestagsabgeordneter. Gefordert werde dann im AfD-Sprech ein Ende der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit. „Bundesweit betrachtet ist das natürlich Quatsch“, sagt Töns: „Schon allein wegen des demografischen Wandels brauchen wir Zuwanderung in den Arbeitsmarkt. Aber erklären Sie das mal am Wahlkampfstand in Gelsenkirchen.“
Allein ist Töns mit seiner Analyse nicht. „Es geht immer um Verteilungskämpfe, es geht immer um Geld“, sagt auch Martin Gatzemeier. Der Direktkandidat der Linken ist mit 8,3 Prozent der Stimmen noch vor seiner prominenten Konkurrentin von den Grünen, der Parlamentarischen Bundestagsfraktionsgeschäftsführerin Irene Mihalic, gelandet. Für sie entschieden sich nur 6,1 Prozent der Wähler:innen.
„Immer höhere Mieten, unbezahlbare Heizkosten und durch die Inflation explodierte Einkaufspreise“ – das seien die Themen, die die Menschen in Gelsenkirchen wirklich bewegen müssten, glaubt der 67 Jahre alte Gatzemeier, der selbst als Rentner dazuverdienen muss und deshalb 20 Stunden in der Woche als Fenstermonteur arbeitet. Doch aufgehetzt durch die AfD wählten nicht nur Geringverdiener:innen und Bürgergeldbezieher:innen „gegen die eigenen Interessen“.
Auch die Grüne Mihalic glaubt, dass Hetze gegen Migrant:innen entscheidend zum Wahlerfolg der AfD gerade in Gelsenkirchen beigetragen hat: „Weil das Thema Migration in einer negativ besetzten Weise den Wahlkampf derart dominiert“ habe, seien die Grünen „mit den wirklich dringlichen Themen vor Ort“ wie „Investitionen für die lokale Wirtschaft“ oder „bezahlbares Leben“ nicht durchgedrungen, sagt die Polizeibeamtin, die seit 2013 für die Grünen im Bundestag sitzt.
SPD-Mann Töns wird noch deutlicher: „Wir haben uns als Ampel zu sehr um Chichi-Themen wie die Cannabis-Legalisierung bemüht – und uns zu wenig um die Industrie und die zehntausende Arbeitsplätze dort gekümmert“, glaubt der 61-Jährige. Die Abschiebungsdebatten hätten die zentrale Frage des Wahlkampfs nur übertüncht: „Es geht um soziale Abstiegsängste“, sagt Töns. „Und die waren noch nie so laut zu hören wie in der jetzigen Rezession.“
Um die AfD nicht nur in Gelsenkirchen kleinzuhalten, brauche es „schnellstmöglich eine gute Industriepolitik, die deren gut bezahlte und tariflich abgesicherte Arbeitsplätze sichert – etwa durch konkurrenzfähige Industriestrompreise“. Für zukunftsfähige Arbeitsplätze genauso nötig sei aber auch ein schneller Hochlauf der klimafreundlichen „Wasserstoffinfrastruktur.“
Aktuell aber drohe etwa der Mineralölkonzern BP in Gelsenkirchen mit dem Verkauf zweier Raffinerien in den Stadtteilen Horst und Scholven. Auf dem Spiel stünden damit nicht nur 2.000 gut bezahlte Industriearbeitsplätze von Festangestellten – auf den Werksgeländen arbeiteten auch noch weitere 2.000 Mitarbeitende von Dienstleistern. „Und die“, warnt der Sozialdemokrat, „stellen Vorprodukte für den Chemiekonzern Evonik her – und für den arbeiten im Chemiepark Marl weitere 6.500 Menschen.“
In Scholven fuhr die AfD ihr bestes Bundestagswahlergebnis in ganz Gelsenkirchen ein: 33,4 Prozent der Zweitstimmen.
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